Leseprobe aus Mein Leben als Hoffnungsträger

 

    Auch am nächsten Tag setzte ich mich nach meinem Erkundungsgang auf die Bank an der Haltestelle. Stundenlang saß ich da, knabberte m&m’s, wackelte mit den Zehen und ließ die Sonne mein Gesicht wärmen. Wie eine Heuschreckenplage jagten die Fragen, die mein Vater bei meinem letzten Besuch in den Raum gestellt hatte, durch meinen Kopf: Wo steckt der Sinn in deinem Tun? Wann gedenkst du deine abgebrochene Lehre wieder aufzunehmen? Wie kann ich dir helfen?

    Als ich aufstehen wollte, um mir eine zweite Packung m&m’s aus dem Automaten zu holen, ertönte hinter mir ein gellender Pfiff. Ich drehte mich um. Hinter dem hohen Zaun des Recyclinghofs stand Uwe und winkte mich mit einer Stehlampe heran.

    »Na?«, sagte er, als ich vor ihm stand, und ich antwortete: »Na?« Er bat mich herein und ging zu den großen Blechbehältern. Ich trabte ihm hinterher.

    »Presscontainer«, sagte er, als wir davorstanden.

    »Okay«, antwortete ich.

    »Wiederholen bitte!«

    »Presscontainer«, wiederholte ich.

    »Gut gesagt.«

    Er kletterte auf den mittleren der drei Presscontainer. Eine schnelle Handbewegung meinte wohl, dass ich es ihm nachtun solle. Wir stellten uns auf den Rand des Presscontainers und schauten in das Maul hinunter. Dann zog Uwe an einem Hebel. Es summte und der Container begann, sperriges Gut in sich hineinzupressen.

    »Schau genau hin«, sagte Uwe.

    »Okay«, sagte ich. Und schaute genau hin.

    Ich wusste noch immer nicht, was er mir zeigen wollte, denn er hatte es mir nicht verraten. Aber im Grunde genommen spürte ich bereits da den Sinn von allem herannahen.

    »Sperrgut«, sagte er. »Wiederholen bitte!«

    »Sperrgut.«

    »Genau.«

    »Sperr, weil es sperrig ist«, sagte ich, »aber warum Gut?«

    »Alles, was ist, ist gut«, lautete Uwes Antwort. »Das Seiende ist grundsätzlich dem Nicht-Seienden vorzuziehen. Sagten schon die alten Griechen. Klar?«

    Ich nickte.

    Sonnenklar war es, und der Sinn von allem näherte sich beständig und begrüßte mich mit einem heiteren Lächeln. Ich war überrascht. Aus dem Sinn hatte ich mir nie viel gemacht, schon gar nicht hatte ich ihn gesucht, doch jetzt, wo er sich blicken ließ, fand ich ihn gar nicht mal so unsympathisch. Ich schaute dem Container beim Würgen und Pressen zu. Uwe schaute mir beim Zuschauen zu.

    »Wie eine Geburt, aber umgekehrt«, sagte ich.

    Uwe runzelte die Stirn. Dann räusperte er sich leise und wandte den Kopf ab. Plötzlich verwandelte sich das Summen unter uns in ein Jaulen. Uwes Gesicht hellte sich auf.

    »Das kommt wie gerufen«, verkündete er begeistert und legte den Hebel um. Das Jaulen verstummte.

    »Manchmal klemmt’s. Dann greifen wir ein.«

    Er sprang hinunter und kam mit einem Hammer in der Hand zurück.

    »Pass auf!«

    Er kroch im Sperrgut herum und schlug mit dem Hammer auf etwas, das wie ein Winkeleisen aussah und im Spalt zwischen der Pressklappe und der Containerwand klemmte.

    »Hast du gesehen?«, rief er.

    »Toll!«

    »Geht nur mit Fingerspitzengefühl!«

    »Da hat wohl einer sein Metier im Griff.«

    »Kannst du laut sagen. Und zwar von der Pike auf.« Er kletterte auf den Rand zurück und warf den Hebel um.

    »Uwe Löhlein kennt keine halben Sachen.«

    Mit einem Klatschen wischte er sich die Hände ab. Wir schauten wieder in den Schlund hinab, es würgte, knackte und knarrte. Es war herrlich.

    So ging es ein paar Tage lang weiter. Jeden Abend holte Uwe mich in den Hof für einen Rundgang. Jedes Mal entließ er mich, ohne mir erklärt zu haben, warum er all dies tue. Aber ich wusste, Uwe brachte mir etwas bei, das Zeit benötigte, das keine vorschnellen Erklärungen ertrug. Es hatte einen Sinn, der erst langsam einen Namen bekäme.

 

 


Leseprobe aus Carambole

 

    Ich habe immer nur ein Bier genommen. Nach dem letzten Schluck sofort wieder nach Hause, ohne Ausnahme. Wenn ich in meinem verpfuschten Leben etwas gelernt habe, dann dies: Streng mit sich selber sein, sonst ist es zu früh zu spät. Also immer nur ein Bier, bis zum Ende aller Tage.

    Und Heinz? Niemand weiß es, nicht mal die Katzige. An jenem Tag saß er bei ihr, als ob es nie anders gewesen wäre. Vor sich das Glas, irgendwo zwischen voll und halb leer. Als er bei halb leer angekommen war, machte er mit dem nächsten Schluck ganz leer, ließ das Glas mit dem gekippten Schaumrand in der Luft tanzen und machte einen blöden Spruch: »Katzige, tust du mir bitte die Luft hier raus?« Eine halbe Minute später stand ein neues Glas vor ihm. Keiner konnte es glauben, keiner, der ihn vorher gekannt hatte.

    Heinz war schon immer da gewesen. Ich hatte seine Geschicke stets nur aus der Ferne verfolgt, denn etwas in mir wusste, dass er mir zu sehr ähnelte und ich ihn deshalb meiden sollte. Nichts in mir wusste hingegen, dass Heinz mir vorausging und mir eines Tages den richtigen Weg weisen würde. Ich würde es erst im letzten Moment erfahren.

    Fünfzehn Jahre lang hatte er beim Bauern Hartmann als Knecht gedient. Er hätte immer dort bleiben können, denn bei Hartmann war er aufgehoben. Und weil Hartmann ein Stolzer war, war auch Heinz ein Stolzer. Man soll das nicht verteufeln, das Knechttum, es ist nur das Wort, das so unmenschlich klingt. Heinz war fleißig, immer bereit, er konnte auch gut mit dem Vieh. Doch eines Tages ging es zu Ende mit Hartmann, das Vieh wurde versteigert, der Hof begann zu verfallen, und Heinz stand da mit leeren Händen. In dem ganzen Unglück zeigte wenigstens einer Erbarmen und schenkte ihm ein Zelt aus alten Armeebeständen. Es war mickrig, aber der kurzgewachsene Heinz konnte problemlos darin stehen. Er richtete sich auf der Gemeindewiese ein, ganz am unteren Rand, wo der Feldweg zum Wald hinüberzieht. Das ging in Ordnung, sie wussten, so einen wie ihn konnte man nicht in den Türkenblock stecken. Tagsüber stand Heinz fortan an der Straße, die Hände in den Hosentaschen, und wartete.

    Ich selber nickte ihm bloß zu, wenn ich mich auf den Weg in die Hirscheneck machte. Seine Grimasse im Rücken, schlurfte ich die Straße hinunter, überquerte den löchrigen Parkplatz und stieg die Treppe hoch. Ich stieß die Tür auf, umrundete den gläsernen Fischteich, ging am Stammtisch vorbei, nach hinten ans Fenster, ich setzte mein Hinterteil sachte auf den Stuhl, und mein Bier kam an der Hand der Katzigen herangeflogen, die ihren Lippen ein seelenloses »Wohl bekomm’s!« entließ, sich umdrehte und mit den Hüften ein paar Stühle zurechtschubste, ich setzte an, nahm drei kräftige Schlucke, stellte das Glas zurück, wischte mit dem Handrücken den Mund ab. Und dachte keine Sekunde an Heinz, der noch immer auf der Straße stand und wartete.

    Zweimal täglich ging ich in die Hirscheneck, um mein Bier zu trinken. Obwohl ich denen nicht zuhörte, die sich am Stammtisch das Neueste und das Immergleiche erzählten, perlte die Geschichte des Dorfes tröpfchenweise in mein Gedächtnis. Ich sprach mit niemandem, doch es gab nichts, worüber ich nicht Bescheid wusste. Auch über Heinz war ich informiert.

    Zwergenheinz hatten sie ihn früher genannt. Inzwischen war er immun gegen solchen Spott. Die aufstrebenden Dorfprinzen und Jungrüpel erfanden neue Namen für ihn, wofür sie von den Älteren gescholten wurden. Er hat’s nicht leicht, sagten sie, und die jungen Leute fühlten sich erst recht gekitzelt. Koboldenheinz, Spatzenheinz, Stinkpfropfen, Glotzstecken. Heinz stellte die Ohren auf Durchzug. Und wartete. Um sein Zelt herum begannen sich alsbald undefinierbare Gegenstände anzusammeln. Allerlei Unbrauchbares fand seinen Weg zu einem, der nichts zu tun hatte und sich vorbereitete auf die Zeit, in der es wieder etwas zu tun gäbe. Kesselartige Hohlkörper, birnenförmige Wurfdinger, hanfgrobe Tarnobjekte. Eckiges, Geschnitzeltes, Schaumwucherndes. Man warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick darauf und dachte sich: Bald holen sie ihn ab, den Verlumpten. Und es kam der Tag, als es die Gemeinde tatsächlich nicht länger tragbar fand. Heinz wurde sanft, aber bestimmt in die zivilisierte Welt einverleibt und landete im Türkenblock. Neben der Wohnung, als kleines Zugeständnis, stellte man ihm eine Garage zur Verfügung. Sie war in kürzester Zeit heillos überfüllt.

    Heinz hielt sich kaum in seiner Wohnung auf. Was hätte er da auch machen sollen? Er war Knecht, hatte immer nur seinen Verschlag gehabt bei Hartmann. Manchmal sah man ihn auf dem Vorplatz der Garage, die Hände nicht in den Hosentaschen, sondern an einem Besen. Aber es funktionierte nicht. Er konnte an diesem Ort nicht wischen, so wie bei Hartmann, wenn die schwere Arbeit getan war. Und während er an der Straße auf bessere Zeiten hoffte, verwaiste das Zelt auf der Gemeindewiese, bis es eines Tages unerwartet in meinem Garten stand. Die drei Jungs, die ihr Hauptquartier unter meinem Kirschbaum haben, hatten sich einen Jux erlaubt und warteten auf eine Reaktion von mir, aber den Gefallen tat ich ihnen nicht. Ich saß unbewegt am Fenster und wartete auf meinen nächsten Biertermin.

 


Leseprobe aus Hasenleben

 

    Die Hälfte des kaputten Spiegels lehnte an der Wand, sie sah sich nur von den Füßen bis zum Bauch. Ein paar Tanzschritte, eine Pirouette, der Rock hob sich. Schön, die Beine, dachte sie. Sie drehte nochmals eine Pirouette und ließ sich zu Boden sinken. Guten Tag, Gesicht, wie geht’s? Ihr Blick folgte den Linien der Nase, der Wimpern, der Brauen. Das Gesicht im Spiegel streckte ihr die Zunge raus, sie lachte, das Gesicht auch. Im Hintergrund hörte sie ein Scheppern, dann das Bersten von Glas. Barfüßige Schritte auf kalten Küchenfliesen. Stille.

    Mein harmloses Leben, dachte Lili, mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen und dem Wunsch, ein bisschen weinen zu dürfen. Dann wandte sie sich vom Spiegel ab, schaute nach der Stille in der Küche. Sie wischte und tröstete, sie sang ein fröhliches Lied, um die Gegenwart des Wischens und Tröstens zu besiegeln, auf dass kein Wunsch nach Weinen und keine freche Zunge mehr hervorkommen mögen. Dies ist die Mitte meines Lebens, sagte sie sich. Ich räume auf, ich tröste.

    Doch am Abend, nach Kartoffelstock mit See und Wurst, öffnete sie wieder ihren Kleiderschrank, zog die unverschämten Stücke hervor und wirbelte vor dem Bruchspiegel. Diese Beine, schön! Dann der Blick auf die Uhr. Der Blick schweifte weiter, zum Spalt des Kinderzimmers. Ein Gedanke, ein verstohlenes Lächeln. Leise zog sie die Schuhe an, drückte sie die Türklinke herunter, drehte sie den Schlüssel um. Sie tanzte in dunklen, überhitzten Kellern, lächelte, jubelte mit der euphorischen Menge im Wettkampf gegen die stampfende Musik, und sie lächelte auch, als sich ein Männergesicht dem ihren näherte, sie lächelte weiter, dachte nicht mehr an die Träume, die nie Form annehmen würden, mit ihrem Lächeln verscheuchte sie die ganze Ungenauigkeit ihres Lebens, nahm die rohe Liebe an, die ihr angeboten wurde, die Nacht verlor sich in Taumel und Bewusstlosigkeit, und Lili für wenige Stunden in Vergessen, dann in Schlaf.

    Am Morgen das Aufwachen neben einem aufgequollenen Gesicht und die Flucht auf Zehenspitzen. Der Hass, das Kotzen, die antrainierte Gleichmut. Später der banale Morgentee und hinten in der Wohnung die Geräusche der Kinder, die zu ihrem Leben gehörten wie die unfertigen Träume. Was wäre aus mir geworden ohne die Kinder?, fragte sie sich. Wären sie und ihr Leben immer kleiner geworden, zusammengeschnurrt auf ein Klümpchen, dass sich irgendwann aufgelöst hätte in nichts? Und war das nicht ihr heimlicher Wunsch? Lili schlürfte weiter an ihrem Tee, bis ein schwebendes Gesicht im Türrahmen auftauchte, etwas nur halb Sichtbares an ihr vorbeihuschte, die Kühlschranktür sich öffnete und schloss, das halb Sichtbare sich wieder aus der Küche entfernte. Dann nahm sie den letzten Schluck und suchte die Kinder, schüttelte und rüttelte sie in die Sichtbarkeit zurück. Der Taumel und das Vergessen hatten längst wieder ihren anderen Aggregatzustand erreicht, ein Gefrorensein ohne Kälte, in Lilis Körper wartend wie kleine gemeine Steine.