Der Schriftsteller kriegt eins ab

Der Schriftsteller in der Kundendienst-Schlange. Gestern zu kleine Batterien gekauft, AAA statt AA, zum Glück hat er es noch bemerkt, bevor die Verpackung offen war. Direkt vor ihm eine Frau mittleren Alters. Halber Kopf kleiner als er, grüne Lederjacke, schwarze Jeans, braunes Haar. Wie hibbelig sie ist! Unablässig in ihrer riesigen Handtasche wuselnd, sich alle paar Sekunden Haare aus dem Gesicht werfend, dazu wechselt sie ständig das Standbein. Als sie kurz zur Seite schaut und er ihr Profil erblickt, weiß er, dass er sie nicht zum ersten Mal sieht. Aber woher kennt er sie? Von einer früheren Arbeit? Von dieser kuriosen Tai-Chi-Gruppe, bei der er mal kurz mitmachte? Von einer Lesung? Nein, stimmt nicht, jetzt fällt es ihm ein, das ist, aber ja doch, das muss, ach, nein, Blödsinn, das kann ja gar nicht sein, das ist schlicht nicht möglich. Und trotzdem kommt es ihm vor, als ob das niemand anders als sie sein kann.

 

Der Kunde vor ihr zieht ab, sie ist dran. Umständlich bringt sie ihr Anliegen zum Ausdruck, wobei sie sich erst bückt und in ihrer Tasche wuselt, die Tasche auf die Theke stellt, dort weiterwuselt und erst auf wiederholte Nachfrage mit der Kundendienst-Angestellten zu reden beginnt. Beim ersten Wort gibt es keinen Zweifel mehr. Ja, er weiß es, er hat sie sofort erkannt, es ist sie, so unmöglich ihm das erscheint, das kann niemand anders als sie sein. Ein Witz, denkt er und schaut sich um, ein gemeiner Streich, den mir einer spielt, aber wer sollte das sein bitteschön, schlicht unmöglich, kein Mensch auf der Welt weiß Bescheid. Abgesehen von ihm selbst. Niemand weiß, dass diese Frau vor ihm seine eigene Romanfigur ist.

 

Weit holt sie nun aus, er hätte es voraussehen können, er kennt sie aus dem Effeff. Erzählt irgendetwas von einem Geburtstagsfest und ihrem Sohn, der erst nicht eingeladen war und zwei Tage lang getobt hat, und dann wurde er doch eingeladen, und hat auf dem Fest irgendetwas, das dem Geburtstagskind gehörte, irgendwie in den See geworfen, der Schriftsteller begreift noch immer nicht, worum es der Frau eigentlich geht, die Mitarbeiterin vom Kundendienst ebenso wenig, aber das passt, oh, wie gut das zu ihr passt, genau so eine Figur hatte er für diese Geschichte gebraucht, und sie war ihm besser gelungen, als er es sich erhofft hat, auch jetzt sieht er das, sie ist perfekt auf den Punkt gebracht. Regina, ewig schusslige, ewig verzweifelte Regina. Immer hat man das Gefühl, dass du jetzt dann gleich zusammenbrichst oder die Contenance verlierst, immer stehst du knapp vor dem Kollaps, aber es passiert nie. Oh, wie ich dich liebe, Regina, oh, wie du kaum auszuhalten bist!

 

Der Schriftsteller macht einen kleinen Schritt zur Seite und Regina, seine eigene Romanfigur, dreht ihren Kopf, ohne ihn ganz anzublicken, redet dabei weiter mit der Frau vom Kundendienst, greift zum x-ten Mal in ihre Tasche, und der Schriftsteller denkt: Regina, Liebste, alles schön und gut, aber was zum Teufel tust du hier? Welcher Schubiack hat dich hierher verfrachtet? Du hast hier nichts zu suchen! Ich lasse das nicht zu, Regina, du bist meine Romanfigur, du verduftest jetzt sofort wieder, zurück in die Besenkammer meiner Geschichte, hast du verstanden? Ich meine, schau dich doch mal an, du kannst hier nicht auftreten, mit deiner plakativen Schussligkeit, mit deiner unmöglichen Art. Ganz unter uns, wir wissen ja beide Bescheid, du bist eine Landplage, so schaut’s aus, und zwar eine von der schlimmsten Art. Welchen Weg du auch nimmst, du hinterlässt nichts als Verheerung, du treibst uns alle hier in den Wahnsinn. Also geh jetzt bitte wieder, Regina, bitte!

 

Als ob sie seine Behauptung von der Verheerung beweisen wollte, schiebt Regina in diesem Augenblick mit dem Ellbogen ihre Tasche von der Theke. Und die Tasche fällt und erbricht ihren ganzen Inhalt über den Boden. Regina entfährt ein Schrei, die Kundendienstmitarbeiterin hält die Hände vor den Mund und verdreht gleichzeitig die Augen, der Schriftsteller bückt sich reflexartig und sammelt die Sachen von Regina, seiner Romanfigur, zusammen, und da passiert’s: Regina, die Romanfigur, schaut ihm, ihrem Schöpfer, in die Augen.

 

Es ist wie ein fieser Schubser von hinten. Nein, schlimmer. Ein Schlag in die Weichteile. Dieser Blick, direkt in des Schriftstellers Seele geht er, langt in seine dunklen Tiefen hinab und wuselt dort herum, und die Lektion, die er dem Schöpfer erteilt, lautet: Du Landplage, du nichtsnutziger Schusselkopf, du Nuschelwusler, du Besenkammerkretin, mach dich vom Acker, aber schleunigst. Ein Schöpfer darf seinem Geschöpf nicht in die Augen schauen, hast du das nicht begriffen? Ich verachte dich dafür, dass du es nicht begriffen hast, und wisse, du elender Schubiack von einem Schriftsteller, dass meine Verachtung keine Grenzen kennt, ich werde dich in meiner Verachtung auf der Stelle wegbeißen, wenn du nicht sofort Leine ziehst!

 

Und der Schriftsteller schluckt leer. Und dreht sich um. Und zieht Leine. Eilige Schritte durchs Getümmel, wieder leeres Schlucken, der Blick auf den Boden gerichtet. Ihm ist übel von diesem Blick, er kann sich kaum auf den Beinen halten. Weg, bloß weg von hier. Doch draußen vor dem Eingang des Supermarkts bleibt er auf einmal stehen. Gehen? Oder doch bleiben und auf sie warten? Noch einmal diesen Blick sehen, sich ihm nochmals entgegenstellen, diesmal aber ohne zusammenzubrechen, ohne Reißaus zu nehmen vor seiner eigenen Schöpfung? Er dreht sich um, schaut zurück. Hier muss sie durch, wenn sie fertig ist, denkt der Schriftsteller, es gibt keinen anderen Ausgang. Hier werde ich sie, nun ja, hier werde ich, na, was werde ich tun, ich weiß es nicht, aber ich warte hier auf sie, und dann, was auch immer, dann wird es anders als vorher, denn was vorher passierte, das darf nicht sein.

 

Eine Viertelstunde vergeht. Nichts. Eine halbe Stunde. Immer noch nichts. Eine ganze Stunde. Nein, sie kommt nicht mehr. Der Schriftsteller verharrt hinter der Säule, sein Herz trocken und hart wie ein verdorrtes Rind in der Wüste. Er denkt: Ob das nun ein Irrlicht in den Wänden meines Gehirns war, ein Ruckeln in meinem Wahrnehmungsapparat oder etwas ganz anderes, sicher ist eins: Es werden immer mehr, mit jeder Geschichte, die du aufs Papier kleckerst, mit jeder Romanfigur, der du ein halbwegs funktionierendes Seelenleben und die dazugehörigen Ticks zusammenklemperst. Immer öfter wirst du auf eine von ihnen treffen, es gibt kein Entkommen. Jedenfalls brauchst du keine Angst vor einem einsamen Lebensabend zu haben. Lustig wird's trotzdem nicht. Also nimm dich in Acht, du elender Schubiack von einem Schriftsteller!