Der Schriftsteller taucht ab

Erst die Zehenspitzenprobe. Na, gar nicht so schlimm, denkt der Schriftsteller und schaut sich um. Da braten die alle fröhlich an der Sonne, aber wenn’s drum geht, sich ein bisschen fit zu halten, tun sie, als seien wir an der Barentssee. Er stellt sich auf die erste Stufe und lässt die Füße sich an die Temperatur des Wassers gewöhnen. Noch eine Stufe tiefer. Und noch eine. Dann holt er Luft und gleitet ins Wasser. Puh!

 

Die Möwe auf dem Poller oben schaut ihm hinterher und denkt sich wohl was. In zittrigen Zügen schwimmt er bis zu den schwimmenden Balken, die den Nichtschwimmerbereich begrenzen. Immer noch kalt, aber langsam wird’s besser. Ihm gefällt es, wenn das Wasser noch nicht so warm ist. Wenn man anfangs etwas zu kämpfen hat. Wie in der Barentssee. Er taucht unter dem Balken durch, und weiter geht‘s. Beträchtlicher Wellengang hier. Die Augen knapp über dem Wasserspiegel, scheint es ihm, als ob die Welt alle zwei Sekunden unter einer Riesenwoge ertrinke.

 

Da vorne ein Kopf. Aha, noch ein Unbeugsamer, denkt der Schriftsteller. Bin ich also nicht der Einzige. Je nun, dann ist’s halt so. Er schwimmt weiter, der Kopf nähert sich Wellental um Wellental. Sichtbar, nicht sichtbar, sichtbar, nicht sichtbar. Jetzt hebt der andere eine Hand aus dem Wasser und winkt. Der Schriftsteller nickt, zieht ein wenig nach rechts, um auszuweichen, doch der andere weicht auf dieselbe Seite aus, oder ist das etwa ein Sich-Nähern? Nun ist bereits sein Lachen sichtbar, nicht sichtbar, sichtbar. Und jetzt macht der Mann auch noch sein Maul auf: »Na sowas, Sie sind doch der … na … sind Sie’s oder sind Sie’s nicht?« Der Schriftsteller schaut sich um. Meint der mich? Oder versteckt sich da einer hinter den Wellen? »Warten Sie«, fährt der andere fort, »sagen Sie’s nicht, ich find’s schon raus … Sie sind der Autor von diesem Buch … von diesem … hmpf … na, jetzt spuck’s schon aus, Spatzenhirn …«

 

Der Mann kommt noch näher, der Schriftsteller weicht zurück, aber der Mann lässt sich nicht beirren. Er hat eine Sonnenbrille auf, durch die ungenügend verdunkelten Gläser sind zwei Glotzaugen zu sehen. Heino-Effekt, denkt der Schriftsteller und wendet seinen Blick schnell ab.

 

»… ah, jetzt hab ich’s. Das war doch das Buch mit diesem Jungspund, der … hmpf … ja, der seinen eigenen Vater sabotiert … haha ... ganz nach meinem Geschmack übrigens ... und am Schluss, na, wie ging der Schluss nochmal … hmpf … darf ich schnell?«

 

Der Mann hält sich am Schriftsteller fest, der Schriftsteller strampelt und strampelt, um oben zu bleiben, der Mann grinst und brabbelt weiter.

 

» …na ja, auch egal, aber dafür weiß ich den Titel wieder. Jüngling ohne Zukunft, genau. Einfach großartig, dieses Buch, Sie sind ein Meister, philosophisch und zugleich rasant geschrieben, ich muss schon sagen, aber jetzt sagen Sie mal, wenn ich Sie schon hier habe, was ich schon immer wissen wollte, schreiben Sie eigentlich auf Papier oder mit dem Computer?«

 

Hmpff. Ich kann den nicht mehr tragen, denkt der Schriftsteller. Und was labert er da eigentlich? Hat er mir grad eine Frage gestellt? Hmpff.

 

»Wie bitte? Auf Papier, sagen Sie? Dacht ich‘s mir doch. Ein echter Traditionalist, gell? Ja, das hab ich mir schon gedacht. Das spürt man irgendwie. Wenn man das Buch liest, meine ich. Und, Tschuldigung, aber wenn ich Sie schon mal hier hab, erlaube ich mir auch noch die Frage, wie Sie auf die Geschichte gekommen sind. Wie sind Sie auf die Geschichte gekommen?«

 

Hmpff. Der Schriftsteller taucht ab, strampelt, taucht wieder auf. Hmpff.

 

»Na, ich sehe schon. Das ist schwer zu sagen, so auf die Schnelle, was? Versteh ich total, dass Sie jetzt nicht gleich in zwei Sätzen antworten können. Ist ja auch eine ziemlich vertrackte Geschichte, und bestimmt ist da auch ganz, ganz viel von Ihnen selber drin, gell? Weil das ist nämlich bei allen Schriftstellern so. Sagt jedenfalls meine Frau. Und die muss es wissen. Verschlingt ein Buch nach dem anderen.«

 

Hmpff. Der Schriftsteller taucht erneut ab, will die Klaue des Mannes von seiner Schulter schütteln, aber der Griff ist eisern, er taucht wieder auf. Hmmmpff!

 

»Oha, mit dieser Frage hab ich Sie offenbar gröber erwischt, was? Auf dem falschen Fuß sozusagen. Da tauchen Sie gleich ab. Ja, ich kann mir schon vorstellen, dass in dem Buch viel von Ihnen drin ist. Vielleicht sogar mehr als Sie selber glauben, gell?«

 

Erneutes Abtauchen, Schütteln, Auftauchen. Herrgottnochmal, warum lässt der nicht los!

 

»Na, Sie sind ja ein Scherzkeks. Zappeln gleich herum, wenn’s mal spannend wird. Aber ich hab die Message schon verstanden, keine Sorge. Jetzt muss ich Sie trotzdem noch was anderes fragen. Wie ist das eigentlich bei Euch Schriftstellern, wenn Sie jetzt, sagen wir mal, wenn Sie jetzt am Morgen aufstehen und frühstücken und duschen und die Zähne putzen, wie geht es dann weiter, ich meine, gibt es da bestimmte Rituale, gibt es da irgendwie …«

 

Hmmmmmmpff. Abtauchen! Abtauchen und machtvoll runter, in die dunkle Tiefe. Weg jetzt! Bloß weg und nicht mehr hinauf. Ah, jetzt lässt er los, der verdammte Leser. Siehste? Man muss es nur richtig machen, und schon ist man ihn los. Jetzt in langen Zügen davon, so weit die Lunge eben hält. Weg, einfach nur weg! Wer weiß, wie viele Leser diese Wellen noch heranspülen.