Der Schriftsteller versucht zu schlafen

Links von ihm der warme Rücken seiner Frau, rechts die Wand, oben irritierendes Halbdunkel. Der Schriftsteller seufzt und schließt die Augen. Und nun? Welches Szenario soll es heute sein? Jeden Abend die gleiche Frage, die Verzweiflung darin manchmal stärker, manchmal schwächer, aber immer vorhanden. Er braucht nun mal ein Szenario zum Einschlafen, anders geht es nicht. Ein Bildergebäude, durch das er im besten Fall flink-flott ins Reich des Schlafs hinüberklettert. Im schlechtesten Fall bleibt er stundenlang darin gefangen, besser gesagt, in seiner eigenen, stetig anwachsenden Irrlust, er klettert im Kreis herum, immer und immer wieder, und der Zweck des Szenarios hat sich längst in sein Gegenteil gewendet: Es wird zum Aufwachszenario.

 

Er geht zwei, drei alte Routineszenarien durch – er selber als Überlebender eines Flugzeugabsturzes auf einer einsamen Insel, er selber als Thelonious Monk in Thelonious Monks Leben, er selber als Zugvogel in einer menschenlosen Welt – und weiß schon bald, dass es heute wieder das Keilhaus sein wird. Genau wie in den Nächten zuvor. Noch immer ist es nicht ganz gefüllt, das Keilhaus, noch immer sind da gähnend leere Stellen.

 

Das Keilhaus soll einen prominenten Platz in einem Prosatext haben, dem er sich seit Kurzem in Skizzen nähert. Das große Bild hat er zusammen, in den nächsten Wochen geht es darum, die Bude in minutiöser Arbeit mit Details füllen. Das Haus befindet sich in einer fiktiven Gasse einer realen nordosteuropäischen Stadt. Die Gasse macht einen Knick, und da die Häuserreihe den Knick mitmacht, ist auf der Außenseite der Reihe ein keilartiger Leerraum entstanden, den man aus unerfindlichen Gründen zugemauert und -gedeckelt hat. In diesem Hohlraum hat einer eine labyrinthische Kombination aus Wohnung, Gerümpelkammer und Archiv gebaut, mit Gängen, die sich über Wendeltreppen hochschrauben und dann über tausend Ecken vom breiten Ende des Keils zu dessen Spitze und wieder zurückreichen, mit Abzweigungen und Sackgassen, mit Archivtürmen, nur mit Steigeisen und Kletterseil zu erklimmen. In diesem Hohlraum landet eines Tages der Held der zu schreibenden Geschichte und kommt da nicht mehr raus.

 

Ein Geräusch im Halbdunkel, der Schriftsteller öffnet die Augen. Er hebt den Kopf, lauscht. Links der Atem seiner Frau, rechts das Schweigen der Wand. Sonst nichts. Ein Geräusch halt, ohne Verursacher, Geräusch ohne Ziel und Zweck, also gleich wieder vergessen. Der Schriftsteller schließt die Augen. Kehrt zurück ins Keilhaus, zurück an jene Stelle, wo er gestern Abend aufgehört hat, auf die oberste Stufe einer irrsinnig engen und steilen Treppe, direkt vor die Schwärze, die noch nicht aufgehellt ist, noch nicht angefüllt mit Dingen.

 

Treppe also, und jetzt, wie weiter? Es braucht hier ein weiteres Element des Archivs, das diesen Raumkeil auffüllt. Ein Raum, eine Schubladenwand zum Beispiel, ja, flache Zeichnungsschubladen, die sich in schummriger Höhe verlieren, wobei sich jede fünfte dieser Schubladen sich als Tritt entpuppt. Zieht man sie heraus und steigt auf ihnen hoch, gelangt man in einen Raum, in dem man nur kriechend vorwärtskommt, also zieht er die fünfte Schublade von unten heraus, nimmt sie als erste Stufe, zieht die zehnte Schublade heraus, nimmt sie als zweite Stufe, und so weiter, er muss das Schritt für Schritt durchgehen, darf keine einzige Stufe auslassen, denn nur so wird der Raum später als Romanraum brauchbar. Als er endlich oben ist, vierzehn Stufen waren es, ist da tatsächlich dieser Raum, aber er fühlt sich nicht so an, wie der Schriftsteller das anfänglich wollte, der Raum ist dunkler und glatter, als er es sich wünschte, aber was kann man da machen, er weiß genau, dass es sich nicht lohnt, dagegen anzukämpfen, dieser dunkle, glatte Raum ist nun mal aus seinem Gedächtnis hervorgeschnellt, irgendetwas aus seiner Kindheit, wie so oft, er kann ihn zwar nicht zuordnen, aber das ist zweifellos ein Kindheitsraum, und er lässt sich nicht wegzaubern, Kindheitsräume sind grundsätzlich nicht wegzauberbar, der Schriftsteller muss diesen hier nolens volens in das fremde Keilhaus einbauen, also kriecht er hinein, der Boden in der Tat glatt, auch die Decke, die er mit der Hand erspürt, und dann plötzlich erspürt er noch etwas anderes, etwas Weiches, Hügeliges, leicht Feuchtes, es ist ein menschliches Gesicht.

 

Eine Flamme schwuppt auf, das Gesicht wird sichtbar, und der Schriftsteller schlägt sich die Hand ins Gesicht. Er weiß, das wird kein Ende nehmen, das Einschlafszenario hat ihn betrogen, denn wer da vor ihm kauert, ist kein anderer als dieser verdammte Kritiker von damals, dieses Großmaul, das ihm in einer Rezension diesen widerwärtigen Schlusssatz reingehauen hat, die Kritik selber war noch akzeptabel, freilich keine Lobeshymne, was der Schriftsteller akzeptieren kann, doch dann kam dieser Schlusssatz, eine Axt ins gefrorene Meer seines Langmuts.

 

Gibt es noch eine Rettung? Zumindest muss man es versuchen. Der Schriftsteller kriecht wortlos an dem Fratzengesicht vorbei, um an seinem Szenario weiterarbeiten. Doch schon bald merkt er, es geht nicht. Die Kritikervisage bleibt vor ihm, nach wie vor beleuchtet von der Flamme. Er kann sich wenden, wie er will, den Rückzug antreten, sich winden, sich schütteln, es nützt nichts. Zwar schweigt die Visage, aber er selber legt jetzt los, denn er kann nicht anders. Und er weiß genau. Wenn er einmal zum inneren Verteidigungs-Monolog angehoben hat, ist die Sache gelaufen, dann kann er gleich aufstehen, weil jeglicher Schlaf in weite Ferne gerückt ist.

 

Also öffnet er die Augen, erhebt sich vorsichtig, schleicht aus dem Zimmer, holt in der Küche etwas zu essen, setzt sich hin, und lässt die eigens produzierte Wortrage über sich ergehen. Die Kritikersau grinst unablässig, und das stachelt ihn natürlich an, der braucht gar nichts zu sagen, im Gegenteil, und das ist das Fiese, je weniger der sagt, desto unbändiger fließt sein Redestrom.

 

Vier Stunden später. Alle Kekse, die er in der Küche finden konnte, sind aufgefuttert. Langsam, sehr langsam wird sein Kopf schwerer, die Kritikerfratze und auch die Wut verblasst. Der Schriftsteller legt sich ins Bett, presst sich an den warmen Körper neben ihm. Kein Szenario jetzt. Im Ohr ein einfältiges Wellenrauschen, das sollte reichen. Und dann schläft er endlich ein.

 

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