Der Schriftsteller bestellt einen Kaffee

Die Kaffeemaschine hinter ihm faucht schon wieder, der Schriftsteller verdreht die Augen. Damals, als Latte Macchiato noch ein Fremdwort war, galten Cafés als Oasen der Ruhe. Lang ist’s her. Er stößt die Tür auf, tritt nach draußen, das Fauchen hinter ihm wird leiser. Er setzt sich an den erstbesten Tisch. Tütchen Zucker in den Kaffee und umgerührt. Schön hier draußen, denkt er. Hier die alte Wackelveranda, dort der See, was will man mehr. Er hebt die Tasse an den Mund und schlürft Bitterheißes.

 

Dann wendet er seinen Blick zum Fußweg bei der Hecke. Gleich ist es so weit. Gleich kommt er. Ruhigen, aber auch zielstrebigen Schritts wird er sich zur Schiffanlegestelle begeben, in der Hand wie schon am Vortag die Tüte mit den Brotresten. Der Anzug hechtgrau, der Mantel darüber dunkelblau, das fast weiße Haar streng bürgerlich seitengescheitelt. Er wird sich ans Geländer des Piers stellen, die Tüte an ihrem unteren Ende packen und die Brotresten ins Wasser fallen lassen. Kurz wird er den Enten, Blässhühnern und Möwen zuschauen, die sich über das Fressen hermachen. Dann wird er zum vorderen Rand des Piers gehen, seinen Blick über den See schweifen lassen, ein paar Atemzüge frische Luft tanken, zehn Sekunden lang, zwanzig, nicht mehr. Dann kehrtum, die Tüte in den Mülleimer geworfen und zurück ins Auto, das er am Anfang des Fußwegs geparkt hat.

 

Er. Der Mann im Anzug. Der Brotkrümelmann.

 

Der Schriftsteller schlürft Kaffee, pustet in die Hände, ohne den Blick von der Stelle bei der Hecke abzuwenden. Eine Minute vergeht, eine zweite, und schon ist der Mann da, und alles läuft ab wie am Vortag. Gleichzeitig verwandelt sich der Schriftsteller in einen Schachspieler und geht blitzschnell biografische Kombinationsreihen durch. Zum Beispiel so: Banker, wohlsituiert, seit dreißig Jahren glücklich verheiratet, in der ganzen Zeit kein einziger Ausrutscher, und dies trotz der zahllosen Versuchungen, die die Finanzwelt und seine Position böten. Tagtäglich legt ihm seine Frau die Tüte mit den geschnittenen Brotresten hin, und genau dies ist es, was ihn auf der Seite der Glücklichen hält. Er weiß: Je zahlreicher die Millionen auf seinem Konto, desto mehr braucht er diesen Anker, diese banale Tüte, diesen allmorgendlichen Gang zum Pier. Was für eine Ödnis! Was für ein Glück!

 

Oder so rum: Banker, wohlsituiert, dreißig Jahre verheiratet, seit Kurzem von seiner Frau getrennt, weil diese mit einem Kollegen von ihm durchgebrannt ist, die Frau, die er so sehr geliebt hat, und jetzt ist diese Tüte das Einzige, was ihn noch aufrechthält, diese Tüte, die er jeden Morgen in dem riesigen, stillen Haus mit Brotresten füllt, und wenn er nach dem Leeren der Tüte am Rand des Piers steht, ist das einzige, was ihn noch vom Sprung ins kalte Wasser abhält, der Gedanke an die nächste Tüte. Unglück, nichts als Unglück, dieses Leben!

 

Oder: Banker, wohlsituiert, seit dreißig Jahren im unaufhaltsamen Aufstieg, große Stadtvilla am Hügel, Zweitvilla an der Côte d’Azur, Chalet in Gstaad, Jachten am Zürichsee und in St-Raphaël, wohl wissend, dass der Motor seines unaufhaltsamen Aufstiegs weder in seinem Netzwerk noch in seinem Machtwillen oder irgendeiner Geniehaftigkeit liegt, sondern einzig allein in der Erinnerung an seine Kinderzeit, an jene Tage, als er mit seiner Oma die Enten fütterte. Diese Erinnerung, die er jeden Morgen in einsamer Stille auffrischt, macht ihn des Lebens froh, nicht die Villen und Jachten, es ist diese Erinnerung, die dafür sorgt, dass ihm alles, was er im Laufe eines Tages in Angriff nimmt, aufs Glänzendste gelingt. Dabei interessiert ihn das alles überhaupt nicht, es interessiert ihn nur diese funkelnde Perle in seinem Gedächtnis, sie ist der Ausgangs- und letztlich auch der Zielpunkt seiner Existenz. Was für ein Glück in all dem sinnlosen Kram!

 

Oder: Sohn eines wohlsituierten Bankers, der es in dreißig Jahren zu nichts gebracht hat. Mit weniger als Null Talent ausgestattet, stellt der Mann einen ständigen Gefahrenherd für das Ansehen und das erfolgreiche Weiterbestehen der Familie dar, also tut diese das Menschenmögliche, um ihn bei Laune und von fern von dummen Gedanken zu halten. Sie verwöhnt ihn, sie verschafft ihm harmlose Beschäftigungen, während er nur zu gut weiß, was Sache ist, so blöd ist er nun auch wieder nicht, er ist sich seines läppischen Schicksals völlig bewusst, und er weiß auch, dass seine allmorgendliche Fahrt an den See, die er sich in hartnäckigen Verhandlungen ausbedungen hat, dass diese Fahrt mit der Krümeltüte auf dem Nebensitz die einzige Freiheit ist, die ihm sein Leben jemals gestatten wird, es ist die Freiheit eines Mönchs, und als solcher verrichtet er auch jede Handlung zwischen Aussteigen und Einsteigen, er verrichtet sein Brotkrümeltütenleeren als Gebet. Ein Glück? Eine Tragödie? Wer weiß das schon.

 

Der Brotkrümelmann dreht sich um, der Schriftsteller nimmt einen letzten Schluck Kaffee. Als er unten an der Hecke vorbeigeht, schaut der Brotkrümelmann auf, nickt dem Schriftsteller zu, der Schriftsteller nickt zurück. Dann ist der Brotkrümelmann weg, und auch der Schriftsteller begibt sich zurück in die Höhle seiner Unfreiheit. Ein Glück, eine Tragödie? Nichts wissen wir, rein gar nichts!

 

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